Kirchner's Gasthaus, später Schneiders Hotel, Sanatorium Hugo-Gefroi, heute Hotel Herzog-Georg
Begründer und Inhaber war Johann Michael Kirchner (* 28.08.1811) aus Gossmannsrod http://de.wikipedia.org/wiki/Go%C3%9Fmannsrod . Er war Büttner und Brauer und übernahm in den 1830er Jahren
die Wirtschaft auf dem Altenstein.
Er wurde 1848 im Revolutionsjahr mehrmals von Steinbacher Bürgern belästigt (die Messerstecher und Schneebuller eben). Sie
konnten dann durch Frei-Schnaps und Frei-Bier besänftigt werden.
1856 zog Kirchner nach Liebenstein und übernahm das Haus des Schneiders Georg Bodenstein direkt am Sauerbrunnen. 1859 tauschte
er dieses Haus gegen eine vormalige Schmiede des Johann Hopf, die sich gegenüber der Schule (heute Backhaus Nahrstedt) befand und richtete dort mit Saalkonzession eine Gastwirtschaft ein.
Die Wirtschaft wurde gern von Touristen und Gesellschaften besucht. Das Kirchnersche Gasthaus ist dann unter seinen Kindern verschuldet und ging am 30.05.1884 in den Besitz des
Herrn Otto Schneider ( 1864 - 1937) über. Für 25500 M hatte er es gekauft, andere Nachbargrundstücke dazu und nahm An- und Umbauten vor und richtete Gast- und Wirtschaftsräume modern
ein.
1876 hatte sich Alexander Kirchner ein Haus neben der Gastwirtschaft bauen lassen. http://www44.jimdo.com/app/s06790cd3cc8612fc/p922322624c946e84/
Johann Michael Kirchner starb 1885.
Seit 1922 führte der Sohn Karl von Otto Schneider zusammen mit seiner Schwester Grete das Hotel.
Karl Schneider (* 30.05.1890, + 1961 Bali) ließ im September 1933 den alten Teil des Hotels abreißen und an dessen Stelle
einen Neubau ausführen. Ostern 1934 wurde der Betrieb im neu errichteten Hotel eröffnet. Es war das beste Hotel in Liebenstein der 30er Jahre.
Nach dem Kriege wurde es als VVN-Heim eingerichtet und verpachtet http://de.wikipedia.org/wiki/VVN. Danach war es Landeskrankenhaus der SVA (Sozialversicherungsanstalten der DDR).
Später wurde das Hotel von der Kurverwaltung (für 27600 M jährlich) gepachtet und 1960 käuflich (205000 M) übernommen. Es wurde als eines der ca 10 Liebensteiner Sanatorien
geführt und erhielt den Namen Sanatorium "Hugo-Gefroi ".
Karl Schneider hatte das Haus Else http://heimatfreundebali.jimdo. com/heimatgeschichte/villen/haus-else/
übernommen und als Kurheim bis 1960 weitergeführt. Er war der Bruder von Frau Else Paukert und wohnte mit seiner anderen Schwester Grete in einem Haus in der Schillerstraße, das sie von
Herrn Michel gekauft hatten.
Nach der Wende hatte der Geschäftsführer der m&i Fachklinik, Herr Kiebele, das ehemalige Sanatorium erworben und zu einem modernen Hotel mit Ladenzeilen und Tiefgaragen umbauen lassen.
Er verstarb jedoch ganz überraschend und seine Witwe konnte das Objekt nicht halten. Heutiger Besitzer ist Herr Brenn. siehe auch www.hotel-herzog-georg.de/.
Die Enkeltochter von Karl Wilhelm Alexander Kirchner, Ingrid Remke, schickte am 24.03.2017 die beglaubigte Abschrift der Geburtsurkunde ihres Vaters, die in Bad Liebenstein, am
17.Dezember 1885 ausgestellt wurde:
"Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt der Gastwirt Karl Wilhelm Alexander Kirchner, wohnhaft zu Bad
Liebenstein,
evangelischer Religion und zeigte an, daß von der Line. Elisabetha Maria, geborene Reseberg seiner Ehefrau evangelischer Religion, wohnhaft bei ihm zu
Bad Liebenstein, in seiner Wohnung am zehnten Dezember des Jahres tausendachthundertachtzigundfünf morgens um fünf Uhr ein Kind mähnlichen Geschlechts geboren worden
sei, welches die Vornamen Karl Georg Heinrich erhalten habe."
Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben
gez. A Kirchner
Der Standesbeamte, gez. Kaiser.
Daß vorstehender Auszug mit dem Geburts—Haupt- Register des
Standesamts zu Bad Liebenstein gleichlautend ist, wird hiermit bestätigt.
Bad Liebenstein, am 24. Apri1 1919
(Siegel) Der Standesbeamte
-gez.Kaiser
Aufnahme 1911, vermutlich der Zustand, der nach dem Umbau von 1884 entstanden war - ein Geschoß aufgesetzt - Archiv W.Malek
Auf dem Plakat;
Opfer des Faschismus mahnen Euch: Kämpft gemeinsam für den Frieden
Hotel Schneider als Landeskrankenhaus der SVA
Adele Schiffmann war über einen längeren Zeitraum Leiterin des VVN Heimes und späteren Sanatoriums Hugo Gefrei
Ihr Schicksal konnte sie zu DDR-Zeiten nicht erzählen. Sie war von einem Schweigegelübde betroffen.
MEINHARD STARK
Deutsche Frauen im GULag 1
Individuelle Erfahrungen und
Verhaltensformen im Haftalltag
Adele Schiffmann: »Da war nichts mehr drin.«
Am 10. Februar 1938 wurde die Familie Schiffmann, ein-
schließlich des 12jährigen Sohnes, in Smolensk verhaftet. Sie
sahen sich nie wieder. Die »Troika« des Smolensker NKWD
verurteilte Adele Schiffmann am 28. September 1938 nach Pa-
ragraph 58/6 als »Agentin der deutschen Aufklärung« zu zehn
Jahren Lager. 41 Anfangs war sie im Wjat-Lag (Gebiet Kirow)
und im Lager Kotlas (Gebiet Archangelsk) interniert.
Nach einem Aufenthalt im Moskauer Butyrka-Gefängnis im Jahr 1940 -
das NKWD erwog die Auslieferung der Jüdin und Kommunistin
an Nazi-Deutschland (!) - internierte man die 35jährige im
Temnikowsker Lagersystem in der Mordwinischen ASSR.
In den Erzählungen über das Lager beschreibt Adele Schiff-
mann vor allem drei Erinnerungsfelder: 1. Die Ohnmacht ge-
genüber den Kriminellen, 2. den Konnex von Arbeit, Norm,
Ration und Hunger sowie 3. die Ambivalenz von Resistenz und
psychischer Zerrüttung. Diesen Erfahrungen versucht der fol-
gende Exkurs nachzugehen.
Die Ohnmacht gegenüber den Kriminellen
Adele Schiffmann beginnt ihre Lagererinnerungen mit einer
Erzählung, in der sie schildert, wie sie schon in der ersten
Nacht der Habgier krimineller Häftlinge zum Opfer fiel.
Während sie schlief, stahl man ihr und anderen Neuankömm-
lingen die verbliebene Habe unter dem Kopf weg. Nach ihrer
Einlieferung ins Lager führte die NKWD-Lagerverwaltung die
politischen gegenüber den kriminellen Häftlingen regelrecht vor
und definierte deren unterschiedliche Rangebenen: »Man
stellte uns hier auf und gegenüber die >Urkis<. So nannten wir
die Verbrecher. Und dann sagte man: >Hier seht sie Euch an,
das sind die Feinde, das sind unsere Feinde und die haben Euch
zu gehorchen. Ihr habt zwar dies und jenes gemacht, aber Ihr
seid echte Russen. Das sind Vaterlandsverräter und unsere
Feinde. (...) Seht sie Euch genau an und paßt auf sie auf!<« Im-
mer wieder kommt Adele Schiffmann auf die Rolle der krimi-
nellen Häftlinge zurück, die im Auftrag der Lagerverwaltung den
Alltag im Lager kontrollierten und bestimmten. Sie arbeiteten
als Baracken-Älteste ebenso wie als Leiterinnen von Ar-
beitsbrigaden oder Verteilerinnen der kargen Verpflegung. Sie
vergaben die Arbeit, unterschlugen Nahrungsmittel, beraubten
die politischen Häftlinge ganz offen und drohten mit Gewalt:
»Die haben die Verteilung des Zuckers unter sich gehabt. Zwei
Stückchen gab es im Monat. Wir haben aber immer bloß die
Hälfte bekommen. Da durfte man aber nichts sagen, daß du
nicht den vollen Anteil bekommen hast. Die Kriminellen haben
mir auch meine Filzstiefel von den Füßen gezogen. Das mußte
man sich alles gefallen lassen. (...) (In der Baracke) war eine
Verbrecherin, die der Hauptaufseher war. Die mußte aufpassen
und (melden) (...), wenn irgendwas nicht in Ordnung war. (...)
Der ist man möglichst aus dem Weg gegangen, (...) um nicht
unnütz in Konflikt zu kommen. (...) Die hat also alles kom-
mandiert, wo sauber gemacht wird, wenn sich jemand krank
gemeldet hat, dann mußte sie das weitergeben. (...) Die hatte
ihr Extrabett in einer Ecke gehabt, und hatte nur aufzupassen.
Das war eine schlimme Verbrecherin, die nicht mehr lange zu
sitzen hatte, die war nun verantwortlich für alles.«
Der Effekt dieser von »oben« installierten »Selbstverwal-
tung« der Häftlinge war ein doppelter: Lagerverwaltung und
Wachpersonal des NKWD konnten sich aus den massivsten
Konflikten heraushalten, gegebenenfalls als »Schlichter« auf-
treten und ihr Erscheinungsbild bewahren und teils partiell auf-
werten. Antipathie, Haß, Opposition und unter Umständen Wi-
derstand der politischen Häftlinge galt vorrangig den Kriminel-
len und ihren Machenschaften und weniger den offiziellen La-
gerorganen.
Arbeit, Norm, Ration und Hunger
Adele Schiffmann konzentriert den immer wiederkehrenden
Verlauf des Alltäglichen im Lager in mehreren kurzen Erinne-
rungssequenzen, etwa: »Wir hatten tagsüber Arbeit und sind
abends wie ein Klotz ins Bett gefallen. Da hatte man zu nichts
mehr Lust. Da war nichts mehr drin.« Auf eine Frage antwortet
sie bündig: »Im Lager? Na, im Lager da war eben Arbeit. Da
ging es frühmorgens auf Arbeit, ganz früh, und abends kamen
die Leute kaputt zurück. Da hat man sich ein bißchen geholfen,
sich ein bißchen gewaschen, die Sachen zurechtgemacht und
dann hat man sich (hingelegt).« Die Zwangsarbeit dominierte
den Alltag des Lagers. Effektivität und Normerfüllung der ge-
leisteten Arbeit bestimmten die Größe der Hungerration. Allein
diese Tatsache motivierte Adele Schiffmann während der Ar-
beit. Gleichzeitig war sie nach eigenem Bekunden »eigentlich
eine vorbildliche Gefangene«, die sich »nichts zu Schulden
kommen ließ«. Ihrer Arbeitsleistungen wegen erhielt sie als
»Auszeichnung« einmal einen kleinen Beutel mit Kartoffeln.
Von einer politischen Arbeitsmotivation wollte sie allerdings
nichts wissen. Der Hunger spielte im Lagerleben von Adele
Schiffmann eine vorrangige Rolle. Auch wenn sie selbst von
sich sagt: »Ich esse wenig, ich hab nicht viel gehungert«, wei-
sen verschiedene Erinnerungen auf die Relevanz des Hungers
hin. Davon zeugt ihre gespannte Aufmerksamkeit während der
Essenausgabe, etwa die Kunst, sich bei der Suppenausgabe zur
rechten Zeit anzustellen, um statt dem Dünnen das Dicke der
Suppe zu bekommen. Sie empörte sich innerlich über die bes-
sere Verpflegung der Wachmannschaften ebenso wie über die
Öltropfen, die auf der Kascha fehlten und von den Kriminellen
unterschlagen wurden. Während des Krieges, besonders im
Winter, nahm die ohnehin unzureichende Ernährungssituation
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besonders drastische Dimensionen an. Unter dem Schnee wur-
de nach Gewächsen gesucht, die lange die Grundsubstanz der
einzigen warmen »Mahlzeit« bildeten. »Das Einzige, wovon
man eigentlich gelebt hat«, entsinnt sich Adele Schiffmann,
»war das Brot. Man mußte eben sehen, daß man möglichst viel
Brot verdient, also ein Kilo. 44 Wenn du nun weniger verdient
hast, dann war das schon nicht mehr (gut). Und am Sonntag,
also sonntags war immer ein Feiertag. Sonnabends habe ich
dann mein Brot aufgespart, und sonntags habe ich dann doppel-
te Portion gegessen. Ja, da hat man sich dann (ausgeruht),
wenn nicht gerade (...) groß Reinemachen (war). (...) Das war
dann unser Sonntagsvergnügen. Wenn man frei hatte, das kam
selten vor, dann hat man sich auf die Nare gelegt und sein Brot
genossen.« Der Mangel, die existentielle Gefährdung und die
alltäglichen Umstände der Nahrungsaufnahme ließen das ge-
ruhsame Verzehren des feuchten Brotes am Sonntag zum be-
sonderen Ereignis werden. Das Brot wurde stets am Körper ge-
tragen, um es vor Verlust oder Diebstahl zu schützen. Es war
überhaupt der wichtigste Besitz im Lager. Schon der Verlust
einer Ration führte zur Bedrohung, mindestens zu unerträgli-
chem Hunger. Teil eines vielfach erinnerten Rituals war auch
das Abwägen und die Verteilung der Ration.
Der Konnex von Hunger und Arbeit richtete die Häftlinge über
kurz oder lang körperlich und seelisch zugrunde. Habitus und
Physiognomie der Häftlinge nahmen eine Gestalt an, die wenig
mit der herkömmlichen gemein hatte. Adele Schiffmann traf
nach Jahren der Trennung irgendwo im »Archipel GULag« eine
Freundin wieder: »Einmal saß ich beim Essen, und da sitzt mir
eine gegenüber. Da denke ich, ob das nicht die Erna Petermann
ist? Die sah nun schon ganz schrecklich aus, mit so einer
Mütze, wo die (Ohrenklappen) runterhingen und so blaß und
dürre. Sieht doch ähnlich aus wie die Erna Petermann. Richtig,
war's die Erna Petermann.« 45 Der eigene Verfall wurde ange-
sichts der einstigen Freundin erahnbar. Das war der einzige
»Spiegel« des rasanten Alterns. Jede Wiederbegegnung mit
einstigen Freundinnen im weiten Lagersystem des GULag be-
deutete insofern Freude und Schmerz zugleich.
Zusätzlich bedrückend wirkte auf die deutschen Häftlinge in
besonderer Weise ihre Einsamkeit. Neben den politischen und
mentalen Blockierungen behinderten lange Zeit hindurch
Sprachschwierigkeiten die Kontaktaufnahme mit Russinnen.
Dadurch befanden sich die deutschen Frauen in einer zusätzli-
chen Isolation. Die fortwährende Verlegung der Häftlinge in-
nerhalb des GULag gehörte zum System der Machtausübung
und förderte die Vereinzelung der politischen Häftlinge, worauf
Adele Schiffmann mehrfach hinweist: »Wir waren meistens al-
leine. Wir waren mit solchen zusammen, die nicht zu uns ge-
paßt haben. (...) Einmal, kann ich mich erinnern, war ich mit
Zensl Mühsam, Erna Petermann und der Erna Kolbe zusam-
men. Aber meistens waren wir getrennt und mit Verbrechern
zusammen.« 46 Die kurze Zeit des gemeinsamen Aufenthaltes
mit deutschen Leidensgefährtinnen verblieb daher bis heute in
plastischer Erinnerung: »Ich hatte den schlimmsten Paragra-
phen 58/6, das heißt Spionage (...). Deshalb durfte ich das La-
ger überhaupt nicht verlassen. Die anderen durften wenigstens
raus aufs Feld, mal Gemüse machen oder irgendwas. Die Erna
Petermann hat mir in ihren Haaren eine Mohrrübe mitgebracht,
oder irgendwas anderes. Wenn sie nach Hause kam, hatte ich
inzwischen warmes Wasser vorbereitet, damit sie sich waschen
kann. So haben wir uns gegenseitig ein bißchen geholfen. (...)
Eine Zeitlang waren wir zusammen, und dann wurden wir wie-
der auseinandergerissen.« An Momente gegenseitiger Hilfe und
Unterstützung erinnert sich die Zeitzeugin nur im Kontext der
deutschen Frauen. Für die Mehrheit der Häftlinge sei eine Mi-
schung aus Apathie, Neid, Mißgunst und Denunziantentum ty-
pisch gewesen: »Die haben sich gegenseitig doch auch be-
kriegt. Gepetzt, der hat das gemacht, und der hat jenes gemacht.
Das war selbstverständlich. (...) Wir haben mit denen wenig
Kontakt gesucht und die mit uns auch nicht.«
Resistenz und Überlebenskampf
In die ersten Haftjahre fallen zahlreiche Eingaben und Be-
schwerden Adele Schiffmanns an Partei- oder Sicherheitsin-
stanzen der UdSSR, die gleichermaßen ihre ideologische
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Ernüchterung wie ihre Resistenz und Widerständigkeit doku-
mentieren.
Allein aus den ersten beiden Haftjahren sind neun Eingaben
überliefert. 47 Die erste Beschwerde richtete sie am 21. Oktober
1938 an den Chef des Smolensker NKWD. Sie bat um die Be-
reitstellung warmer Kleidung und forderte Aufschluß über das
Schicksal ihres Sohnes. Im Frühjahr 1939 verfaßte sie, nun-
mehr schon im Wjat-Lag, eine zweite Eingabe an das NKWD.
Adele Schiffmann formulierte keine Bitten, verbunden mit den
üblichen Unterwerfungsritualen, sondern stellte von Anfang an
klar, niemals Spionage betrieben zu haben und bezeichnete die
Art und Weise der Untersuchung (keine Beweise, kein Dolmet-
scher u. a.) als Verstoß gegen die »Stalinsche Verfassung«.
Schreiben ähnlichen Inhalts sandte die Inhaftierte später an die
Kontrollkommission der KPdSU sowie das Politbüromitglied
Shdanow. Tatsächlich kam es zu einer formalen Überprüfung
ihres Falles. Die Smolensker NKWD-Verwaltung, das seinerzeit
verurteilende Organ, beauftragte man mit der Revision des
Falles. Das Urteil, wie konnte es anders sein, wurde bestätigt.
Am 9. Mai 1939 schrieb Adele Schiffmann an den neu ernann-
ten Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Berija. Auch
ihn bat sie um die »Überprüfung ihres Falles und die Freilas-
sung aus dem Lager«. Am 23. Juli 1939 wandte sich Adele
Schiffmann erneut an das NKWD. Dort heißt es: »Ich schrieb
bereits einige Beschwerden wegen meiner Verhaftung (...), bin
aber bis heute ohne Benachrichtigung geblieben, ob meine Be-
schwerde angenommen wurde und meine Sache einer Nach-
prüfung unterzogen wird. Deshalb habe ich mich entschlossen,
noch einmal zu schreiben. Ich wurde am 10. Februar 1938 zu-
sammen mit meinem Mann verhaftet unter der Beschuldigung:
Spionage (58-6). Ich weise diese Anschuldigung entschieden
zurück. Niemals im Leben habe ich mich mit Spionage, konter-
revolutionären Handlungen oder Provokation befaßt. Ich bitte
deshalb dringendst, meine Sache zu überprüfen, um meine
vollständige Unschuld festzustellen.« 48
Im GULag wurden die Inhaftierten in bewußter Ungewißheit
und Isolation gehalten. Adele Schiffmann hat nie eine Antwort
auf ihre Beschwerden und Eingaben erhalten. Die Nachfragen
nach ihrem Sohn blieben unbeantwortet. Entsprechend dem po-
litischen Konzept der Stalinführung nach dem XVIII. Parteitag
von 1939 wurden formale Überprüfungen von Untersuchungs-
verfahren innerhalb des NKWD durchgeführt. Die Revision ih-
res Verfahrens führte zur endgültigen Bestätigung ihrer
»Schuld« und zur Erhärtung des Urteils.
Neben der Häufigkeit fällt die Diktion der Beschwerden ins
Auge. Die Gefangene ging stets von ihrer Unschuld aus und
forderte die Freilassung aus dem Lager. Gleichsam klagte sie
die Verletzung der Untersuchungsformen und des nach der
Verfassung gewährten Asylrechts ein. Ausführlich verwies sie
auf ihre Lebensgeschichte und den selbstlosen politischen Ein-
satz für die KPD. Dennoch verzichtete Adele Schiffmann
gegenüber den politischen und staatlichen Autoritäten auf die
sonst üblichen Glaubens- und Unterwerfungsrituale ebenso wie
auf agitatorische Denunzierung zeitgemäßer »Feinde«. Sie for-
derte einzig das ihr zustehende Recht. Davon ließ die inhaftier-
te Frau nicht ab.
Die über Jahre anhaltenden Strapazen des Lagers versetzten
Adele Schiffmann jedoch auch in mehrere existentielle Krisen.
Anfangs war es die unvorstellbare, zehnjährige Haftfrist, die sie
völlig deprimierte: »Ich sagte mir, zehn Jahre, wie sollst du das
aushalten, wie sollst du zehn Jahre aushalten. Das ist doch
unmöglich, ohne zu wissen, wie es der Familie geht.« Bald
nach der Verurteilung stellte sie beim NKWD das Ersuchen,
Kontakt mit dem Sohn aufnehmen zu dürfen. Dort machte man
ihr die Mitteilung, das Sorgerecht für den Sohn sei ihr »auf
ewig« entzogen. Zur Aussichtslosigkeit kam nun noch die
Sinnlosigkeit. Unbekannt blieb ihr auch das Schicksal des Ehe-
mannes und der in Deutschland verbliebenen jüdischen An-
gehörigen. Diese familiären Verluste sowie die zwi-
schenmenschliche Kälte im Lager stürzten Adele Schiffmann
immer wieder in tiefe Depressionen. Im Laufe ihrer Lager- und
Verbannungszeit unternahm sie vier Selbstmordversuche. Vier-
mal wähnte sie sich an der Schwelle, »wo man nicht mehr wei-
ter wollte«.
Am 10. Februar 1948, nach genau zehn Jahren, wurde die
Gefangene aus dem Lager entlassen. Man ließ sie bis 12.00
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Uhr warten, dann erst wurde ihre Freilassung verfügt. Ihre
Schuhe überließ sie den Leidensgefährtinnen, von denen sie
zum Abschied eine Jacke aus Flicken erhielt. Zu ihrem Gepäck
gehörten eine Wäschegarnitur, ein Kleid und 70 Rubel.
Am 15. Februar 1949, ein Jahr nach ihrer Entlassung aus
dem Lager, wurde Adele Schiffmann erneut verhaftet, nunmehr
vom Ministerium für Staatssicherheit (MGB). Man verurteilte sie
wegen »Spionagetätigkeit« und verbannte sie nach Turuch-
ansk, ca. 3.000 km östlich von Moskau. Die mündlich mitge-
teilte Frist lautete »auf ewig«.
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ANMERKUNGEN
1 Vgl. Meinhard Stark: Deutsche Frauen des GULag. Eine zeit- und lebens-
geschichtliche Befragung. Manuskript der Dissertation, Berlin 1994. Die
Arbeit wird zur Zeit für die Veröffentlichung vorbereitet.
2 Käte L.: 1910 im Rheinland geboren, Juli bis Dezember 1933 als Geisel für
ihren kommunistischen Lebensgefährten in Gestapo-Haft, anschließend
Emigration in die UdSSR, Verhaftung im Februar 1938 in Moskau, bis 1948
Gefängnis und Lager, bis 1956 Verbannung in Sibirien, 1957 Übersiedlung in
die DDR. Interview vom 15. bis 17. April 1991.
3 Vgl. Hans-Günther Adler: Concentration Camps to be Investigated by Social
Science, Wiener Library Bulletin, März/Mai 1947; ders.: Die Erfahrung der
Ohnmacht - Beitrag zu einer Soziologie der Verfolgung, und Gedanken zu
einer Soziologie des Konzentrationslagers. In: Hans-Günther Adler: Die
Erfahrung der Ohnmacht. Beiträge zur Soziologie unserer Zeit, Frankfurt am
Main 1964, S. 193ff. Vgl. außerdem die Arbeiten von Achim Siegel: Die
Dynamik des Terrors im Stalinismus. Ein strukturtheoretischer
Erklärungsversuch, Pfaffenweiler 1992; Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des
Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993; Gerhard
Armanski: Maschinen des Terrors. Das Lager (KZ und GULAG) in der
Moderne, Münster 1993.
4 Vgl. Libushe Zorin: Soviet Prisons and Concentration Camps. A Annota-ted
Bibliography 1917-1980, Newtonville, Mass. 1980.
5 Alexander Solschenizyn hat die verschiedenen sozialen, nationalen und
politischen »Ströme«, die sich zum GULag ergossen, beschrieben. Er ver-
wies neben den kriminellen Häftlingen auf die unterschiedlichen Gruppen der
politischen Häftlinge (die sog. »Achtundfünfziger«), die sich zwischen den
Polen tatsächlicher Opposition und unbedingter Loyalität gegenüber der
Sowjet-Diktatur bewegten. Vgl. Alexander Solschenizyn: Der Archipel
GULAG, Bern 1973, S. 35ff. und ders.: Der Archipel GULAG, Folgeband,
Bern 1974, S. 31 Off. Vgl. auch Jacques Rossi: The GULAG Handbook. An
Encyclopedia Dictionary of Soviet Penitentiary Institutions and Terms Related
to the Forced Labor Camps, New York 1989.
6 Vgl. Solschenizyn: GULAG, Folgeband, S. 218.
7 Schätzungen über Opfer liegen vielfach vor und gehen teils weit auseinan-
der. Roy Medwedew gibt für die Jahre 1936 bis 1938 fünf Millionen Ver-
haftete an, von denen mehr als eine halbe Million erschossen wurde und die
Verbliebenen mehrheitlich im Lager starben. Vgl. Roy Medwedew: Das Urteil
der Geschichte. Stalin und Stalinismus. Band 2, Berlin 1992, S. 141.