Valentin Köhler, genannt Faltin

von Hans-Joachim Weyh (1920-2005)  http://www44.jimdo.com/app/s06790cd3cc8612fc/p0586595de249bad0?safemode=0&cmsEdit=1

Es war Sonnabend Nachmittag. Alle waren schon nach Hause gegangen, nur in der unteren Hofeinfahrt machte sich ein fremder alter Mann an einem Wagen, dem „Döngwuin“ zu schaffen.
Er schob eine lange Stange neben dem linken Hinterrad unter die Achse und hob mit der Schulter den Wagen so an, dass das Rad sich frei drehen konnte. Dann stellte er ein Kantholz unter den Hebel und begann den Splint aus der Achse zu schlagen. Die Sache interessierte mich und ich ging näher heran.
Er scheuchte mich aber barsch zurück. Offenbar traute er seiner wackligen Konstruktion selbst nicht recht. Nun fiel der Splint heraus und er zog das Rad von der Achse. Wieder ging ich näher heran. Da fuhr er mit der Spachtel in den Eimer mit der Wagenschmiere und drohte mit wilder Gebärde, mir einen Bart anzumessen. Ich sah, dass seine blauen Augen dabei verschmitzt lachten und empfand keinerlei Angst. Das war der Beginn einer Freundschaft, die viele Jahre andauern sollte.
Er wohnte mit seiner Familie an der Kreuzgasse in dem großen Haus (wahr-scheinlich Haus Hupka  http://www44.jimdo.com/app/s06790cd3cc8612fc/pa656259a22b5fa2a?safemode=0&cmsEdit=1)  neben dem Gasthaus „Felsenkeller“. Dort lebte im Winter auch sein Schwiegersohn, der in der Saison in einem großen Hotel am Rhein arbeitete.
„Mie Baron iss widder do, sagte Faltin dann immer“. Ich habe nie richtig verstanden, wie er das wohl meinte. Ob er wusste, dass sein Schwiegersohn den Namen eines Dichters und Minnesängers aus unserer Gegend trug?
Seine Enkelin lernte im Lazarett einen verwundeten adeligen Soldaten aus dem Österreichischen kennen, den sie heiratete. So hatte Faltin eine wirkliche Baronin in seiner Familie.
Faltin war bei uns eingestellt worden, um das Gespann Fannie und Max zu übernehmen.
Fannie war ‚das Sattelpferd, eine lammfromme braune Stute, während Max das Handpferd, der „Naawerder“ ein nervöser Fuchswallach war. Fannie wurde von meinem Freund Walther beharrlich „Pfannie“ genannt, so dass wir schließlich alle diesen Namen gebrauchten. Sie war gutmütig und ließ alles mit sich geschehen. Im Stall krochen wir ihr zwischen den Beinen herum und wer ganz mutig war kitzelte sie in den Weichen. Dann hob sie den Huf, als ob sie ausschlagen wollte. Sie zuckte aber nur, so dass man meinen konnte, sie hätte Spaß an der Sache.
Anders war die Sache mit Max. Er hatte einmal beim Striegeln auf dem Hof gescheut, war auf die Abdeckung der 
Kalkgrube gesprungen und eingebrochen. In der Grube wurde Branntkalk, der aus Oberrohn geholt wurde, zu Mörtelkalk gelöscht. Es dauerte mehrere Stunden, bis man das Pferd mithilfe eines Flaschenzuges aus der aggressiven Brühe befreit hatte. Erst nach Monaten waren die Verätzungen abgeheilt und das Fell hatte wieder seinen gesunden Glanz. Max blieb aber auf Dauer ein nervöses und schwieriges Pferd und wir trauten uns nicht an ihn heran. Als er sich einmal in der Mittagspause zur Ruhe gelegt hatte, verfing er sich mit dem Hinterhuf in seinem Geschirr und wälzte sich nun, wild um sich schlagend, in seiner Box. Mehrere Männer standen dabei und diskutierten aufgeregt. was wohl zu tun sei. Da kam Faltin ruhigen Schrittes in den Stall. Er packte blitzschnell zu und befreite das Pferd von seiner Fessel.,, So wird‘s gemacht“, sagte er nur und alle schwiegen betreten.
Als ich Jahrzehnte später einmal unsere Anna besuchte, kamen wir auch auf Faltin zu sprechen.
„Kannst du dich noch an seine blauen Augen erinnern?“, fragte sie mich. Da fiel mir eine meiner ersten Niederlagen ein, die ich im Leben erlitten hatte.
Es regnete und unter der Halle wurde Wäsche aufgehangen. Ich wollte den Frauen imponieren, indem ich an der Wäschestange mit Strampeln und Gestöhn einige Klimmzüge versuchte.
Da setzte Faltin die Tränkeeimer ab und trat ans Gerät. 14 Mal zog er ruhig und gleichmäßig die große Nase über die Stange und die blauen Augen sahen spöttisch auf mich herab. 74 Jahre war er damals alt und ich schämte mich vor den Zuschauern und schlich mich still davon.
„Er war ja auch nur Haut und Knochen“, sagte Anna, um mich zu trösten.
Seine Fitness bewies er auch noch auf andere Weise. Meine Mutter hatte ihn einmal gebeten, auf seinen Fahrten Ausschau zu halten, um von den Holzfällern einige Zweige mit Tannenzapfen mitzubringen, die sie in der Vorweihnachtszeit gerne für ihre Bodenvase auf der Diele gehabt hätte.
Prompt brachte er ihr jedes Jahr vor Weihnachten den gewünschten Strauß mit. Meine Mutter war hoch erfreut und ernannte ihn im Spaß zu ihrem „treuen Hof- und Stallmeister“, was er schmunzelnd zur Kenntnis nahm.
Sie hatte wirklich geglaubt, dass er die Tannenzapfen, die ja nur in den höchsten Spitzen der Bäume wachsen, von gefällten Bäumen mitgebracht hätte.
Die Aufklärung war für sie ein Schock. Als wir einmal an einem schönen sonnigen Nachmittag im Oktober früher.als üblich nach Hause kamen, saß Faltin in der höchsten Spitze des Birnbaumes und winkte uns fröhlich zu.

Dieser Birnbaum war schon uralt und durfte wegen seiner morschen Äste schon seit vielen Jahren nicht mehr zur Ernte bestiegen werden.
Sie zitierte ihn sofort herab, „aber vorsichtig damit nicht noch etwas passiert“, und machte ihm heftige Vorwürfe. Was hätte alles passieren können und sie trug die Verantwortung.
Herrmann Peter wollte sie beruhigen und wies daraufhin, dass Faltin doch schon seit Jahren seine Kletterkünste unter Beweis gestellt hatte, indem er die Tannenzweige aus den höchsten Gipfeln der Bäume holte.
Das gab meiner Mutter den Rest. Gleich am Montag sollte der Birnbaum umgesägt werden. 
Seine Fitness erhielt Faltin sich bis ins höchste Alter. Als ich nach dem Krieg einmal zu Besuch in Liebenstein war, traf ich ihn am „Eselssprung“, wo er Wurzeistöcke von gefällten uralten Buchen rodete.
Ich fragte ihn, ob denn das Heizmaterial wirklich so knapp sei, dass er sich diese Knochenarbeit zumuten musste.
„Nein“, war die Antwort. „Ich mache dass, damit das Blut besser durcheinanderkommt.“
Als er etwa 90 Jahre alt war, legte er auf seiner Wiese in Bairoda noch einen Obstgarten an.
Was das Pflanzen von Apfelbäumchen betraf, so hielt er es wohl mit Martin Luther.
„Von diesen Bäumen wirst du aber nichts mehr ernten“, rief ein roher Mensch ihm im Vorbeigehen zu.
Als ich einige Jahre später wieder einmal bei meiner Mutter zu Besuch war, sah ich ihn vom Hofmühlchen die Inselsbergstraße herabkommen. Er kam zu mir an den Zaun, nahm den Rucksack ab und sagte: „So, du warst auch einer von denen, die nicht glauben wollten, dass ich von meinen Bäumen noch etwas ernten würde. Nun will ich dir erst einmal ein paar schöne Äpfel schenken.“
Das war das letzte Mal, dass ich meinen alten Freund Faltin gesehen habe. Einige Zeit später erhielt ich in der Ferne die Nachricht, dass er gestorben war.
Er soll einen gnädigen Tod gehabt haben.